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Abdu'l-Baha : BRIEF AN FOREL
Abdu'l-Bahá - BRIEF AN FOREL

(c) Bahá'í Verlag GmbH, Hofheim-Langenhain 1975-132 ISBN 387037 072 6

In den hier wiedergegebenen Originalbriefen von A.Forel hat der Bahá'i-Verlag die Schreibweise Bahá'í beibehalten

Portrait: August Forel
INHALT
August Forel an Abdu'l-Bahá 7
Abdu'l-Bahá an Forel 13
Nachwort: Die Welt als Gestaltung 33
#7
August Forel an Abdu'l-Bahá
Hochverehrter Herr,

ich habe soeben wunderbare Briefe gelesen, die Sie nach Angaben von Herrn Wilhelm Herrigel, der sie ins Deutsche übersetzte, 1910 an eine Dame, Frau Dr. F., gerichtet haben. Triff dies zu? Sind diese Briefe tatsächlich bereits 1910, vor dem Weltkrieg, geschrieben worden? In diesem Fall bin ich höchst erstaunt über Ihren prophetischen Scharfblick.

Aber ich habe Ihnen eine sehr wichtige Frage zu stellen. Ich muß Ihnen sagen, daß ich mit meinen nunmehr 72 Jahren immer von den Wahrheiten der Wissenschaft begeistert war. Schon 1874 habe ich ein umfangreiches Buch über die Verhaltensweisen der Ameisen geschrieben, und seit dieser Zeit Werke über die Anatomie des Gehirns, über Hypnose, über die Sinneswahrnehmungen der Insekten, über die Hygiene des Nervensystems, über die sexuelle Frage usw. Von 1879 bis 1898 war ich Professor für Psychiatrie an der Universität Zürich und Direktor der dortigen Irrenanstalt. Von da her werden Sie den Grund meiner folgenden Frage verstehen.

Gelesen habe ich überdies die Statuten der Bahá'í-Religion oder vielmehr ihre Grundsatzerklärungen, ferner Ihre Abhandlung (aus dem Englischen von Miss Goodall übersetzt) wider den "Glauben der Naturphilosophen über Gott" und das Gespräch von Professor Edw. G. Browne¹ mit Bahá'u'lláh 1890 in Akka. Schließlich habe ich das Buch von Mirza Abul Fazl² über die Geschichte der Bahá'í-Religion in deutsch gelesen.

¹ Englischer Orientalist, 1862-1926. Vgl. H.M. Balyuzi "Edward Granville Browne and the Bahá'í Faith", George Ronald, London 1970

² Abu'l-Fadl-i-Gulpáygání, Geschichte und Wahrheitsbeweise der Bahá'í-Religion (deutsch aufgrund der englischen Übersetzung) Stuttgart 1919

Aus diesem Schrifttum scheint hervorzugehen, daß Sie die Naturphilosophen im allgemeinen solcher Irrtümer beschuldigen, die nur bei gewissen Fanatikern eines strengen Materialismus zutreffen, welche - wie Oswald und Haeckel -, ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen, eine "Metaphysik der Energie oder der Materie" begründen. Man vergeudet seine Zeit damit, die Atome, die Energie, das Unendliche, das Universum usw. gelehrt abzuhandeln; das sind nur sinnleere Worte. Ich für meinen Teil bin Monist im folgenden Sinn: Ich bin sicher, daß die Funktionen des Gehirns und der menschlichen Seele nur ein untrennbares Ganzes sind. Folglich kann ich nicht an ein Fortleben der individuellen Seele nach dem Tod des Gehirns glauben. Dieser Monismus gehört in den Bereich der Wissenschaft und läßt sich induktiv beweisen. Dagegen erkläre ich mich wie der Philosoph Sokrates und der große Naturforscher Darwin in Sachen der Metaphysik als absoluten Agnostiker, das heißt, "Gott" ist für mich nichts als das - mutmaßlich absolute, aber für den Menschen absolut unerkennbare - Wesen des Universums. Es ist demnach absolut nutzlos, es mit Eigenschaften und mit irgendwelchen Absichten ausstatten zu wollen. "Gott", das heißt das vermutete Metaphysisch-Absolute, ist der Ursprung dessen, was schlecht und was gut ist, mit Bezug auf uns ebenso wie mit Bezug auf jedes andere Wesen. Warum? Wir wissen es nicht, und jeder Versuch einer Auslegung ist nutzlos, ja schädlich. Wenn wir Gott ergründen wollen, bewegen wir uns nur in falschen Zirkelschlüssen. Aus diesem Grund habe ich herein mit 16 Jahren die christliche "Konfirmation" abgelehnt. Ich gehöre keinem Bekenntnis an.

Nun behaupten Sie aber in ihrer Auseinandersetzung mit den Vertretern des Naturalismus, Herrigel und den Bahá'í zufolge, Gott habe ein eigenes Bewußtsein¹, einen Willen, die Macht der Wahl; er sei vollkommen. Bewußtsein, Wille, Wahlfreiheit sind aber persönlichmenschliche Eigenschaften, und was Vollkommenheit sein könnte, davon haben wir keine Vorstellung. Ihr Gott wäre demnach "persönlich, das heißt einem Menschen, einem idealisierten Menschen ähnlich". Andere Textstellen Ihrer prachtvollen internationalen Religion stimmen nicht mit einer gewissen Beschränktheit, die aus dem ganzen Buch von Mirza Abul Fazl hervorgeht, überein. Abul Fazl greift die Freidenker ganz gehörig an. Trotz alI meiner Bewunderung für Ihre menschlichen Grundsätze bekenne ich somit, daß ich Ihre "göttlichen" Grundsätze nicht verstehe. Hier also meine Frage:

¹ Im französischen Brieftext "une conscience de lui (Bewußtsein)"

Kann ich, ja oder nein, mit meinem vorerwähnten Agnostizismus der Bahá'í-Religion angehören, ohne mich selbst und andere zu belügen?

Ich habe 1916 oder 1917 einen Aufsatz über das veröffentlicht, was ich die wissenschaftliche Religion des "Gemeinwohls" genannt habe, im Sinne des oben Erwähnten, mit ähnlichen Wesenszügen wie Ihre Religion. Am 15. Februar 1921 kehre ich an meinen Wohnort Yvorne (Waadt), Schweiz, zurück; wenn Sie mir dorthin antworten, kann ich Ihnen diesen Aufsatz schicken.

Gestatten Sie, hochverehrter Herr, den Ausdruck meiner Gefühle aufrichtiger Bewunderung.

(gez.) Dr. A. Forel
vormals Professor an der Universität Zürich

Rüppurr bei Karlsruhe, 28. XII. 20, Baden, Deutschland Auerstraße 24

P.S.: Nur um meine Frage zu begründen, habe ich oben ausschließlich diejenigen Punkte dargelegt, in denen ich die Bahá'í-Religion von meinem Glauben, abweichen sehe, wobei ich sie nach Herrigel usw., beurteile. In allem Übrigen, vor allem unter dem Gesichtspunkt der Moral oder Humanethik und der umfassenden Toleranz für alle Glaubensbekenntnisse auf der Erde, kann ich Sie nur bewundern und mit allen meinen Kräften unterstützen.

#12
Portrait: Abdu'l-Bahá
#13
Abdu'l-Bahá an August Forel¹

¹ nach der englischen Übersetzung von Shoghi Effendi, veröffentlicht in "The Bahá'í Revelation", London 1955. Der persische Originaltext wurde erstmals 1922 in Kairo gedruckt.

+1

Dem geschätzten und verehrten Herrn Professor Dr. Forel -

auf ihm sei die Herrlichkeit Gottes, des Allherrlichen!

Er ist Gott!
O verehrter Wahrheitssucher!
+2

Ihr Brief vom 28. Juli 1921¹ kam an. Sein Inhalt brachte große Freude und bewies, daß Sie - Preis sei Gott! - noch jung sind und nach der Wahrheit suchen, daß Ihre Denkkraft stark und Ihre geistigen Entdeckungen offenkundig sind.

¹ Die Antwort bezieht sich eindeutig auf Forels Brief, der gemäß vorliegender Kopie "28. XII. 20" datiert ist.

+3

Von dem Brief, den ich an Dr. F.¹ geschrieben hatte, sind viele Abschriften verbreitet worden; jeder weiß, daß er im Jahre 1910 offenbart worden ist. Außer diesem Brief wurden vor dem Kriege viele weitere gleichen Inhalts verfaßt, und in der Zeitschrift der Universität von San Franzisko² ist auf diese Fragen hingewiesen worden. Das Datum jener Zeitschrift ist zweifellos bekannt, ebenso auch das hohe Lob weitsichtiger Philosophen über einen Vortrag, der in der erwähnten Universität beredsam gehalten wurde; ein Exemplar jener Zeitschrift liegt diesem Briefe bei.

¹ Im Englischen "Dr. Fisher". Forel schreibt von "Frau Dr. F." Es handelt sich mit großer Wahrscheinlichkeit um Frau Dr. Fallscher, die langjährige Hausärztin 'Abdu'l-Bahás in Haifa. "Fisher" und "Fallscher" werden in persisch-arabischer Schrift fast gleich ausgedrückt.

² Stanford University, Palo Alto 1912. Die Rede 'Abdu'l-Bahás ist in "Bahá'í-Briefe" 42, Oktober 1970, p.1178ff wiedergegeben. 'Abdu'l-Bahá unterscheidet darin westlich-moderne, materialistisch-empirische Philosophie von griechisch-persischer, normativer, rationalistischer Philosophie und erläutert den Unterschied an den Theorien über das Wesen der Natur und den Ursprung des Menschen.

+4 #14

Ihre Werke sind zweifellos sehr segensreich; senden Sie uns von jedem ein Exemplar, soweit sie veröffentlicht sind.

+5

Mit den Materialisten, von deren Ansicht über das Göttliche die Rede war, sind nicht die Philosophen im allgemeinen, sondern jene Gruppe, engstirniger Materialisten gemeint, die das sinnlich Wahrnehmbare verehren, die sich nur auf die fünf Sinne verlassen und deren Erkenntnismaßstab auf das begrenzt ist, was durch die Sinne wahrnehmbar ist. Alles sinnlich Wahrnehmbare ist ihnen wirklich, während sie alles, was nicht der Macht der Sinne unterliegt, entweder für unwirklich oder für zweifelhaft erachten. Daß es eine Gottheit gibt, halten sie für völlig zweifelhaft.

+6

Wie Sie schreiben, sind also nicht die Philosophen im allgemeinen angesprochen, sondern die engstirnigen Materialisten. Die an Gott glaubenden Philosophen wie Sokrates, Plato und Aristoteles sind in der Tat verehrungswürdig und verdienen höchstes Lob; denn sie haben der Menschheit hervorragende Dienste erwiesen. Desgleichen schätzen wir die feingebildeten, bescheidenen materialistischen Philosophen, die (der Menschheit) Dienste getan haben.

+7 #15

Wir betrachten Wissen und Weisheit als Grundlagen des Fortschritts der Menschheit und verehren Philosophen von breitem Gesichtsfeld. Lesen Sie die Zeitschrift der Universität von San Franzisko genau durch, damit Ihnen die Wahrheit offenbar werde.

+8

Was die Geisteskräfte angeht, so gehören sie wahrscheinlich zu den angeborenen Eigenschaften der Menschenseele, wie die Leuchtkraft eine Grundeigenschaft der Sonne ist. Die Sonnenstrahlen erneuern sich, aber die Sonne selbst ist beständig und unveränderlich. Bedenken Sie, wie der menschliche Verstand sich entwickelt, wieder nachläßt und manchmal völlig schwindet, während die Seele sich nicht verändert. Damit sich der Verstand offenbare, muß der menschliche Körper heil sein. Ein gesunder Verstand kann nur in einem gesunden Körper wohnen, aber die Seele ist nicht vom Körper abhängig. Durch die Macht der Seele hat der Verstand Begriffs- und Vorstellungsvermögen, durch sie übt er seinen Einfluß aus; aber die Seele ist eine freie Macht. Der Verstand begreift das Abstrakte mit Hilfe des Konkreten, aber die Seele hat unbegrenzte, eigenständige Offenbarungen. Der Verstand ist umgrenzt, die Seele unbegrenzt. Mittels der Sinne - Gesicht, Gehör, Geschmack, Geruch, Gefühl - begreift der Verstand, aber die Seele ist frei von allen Werkzeugen. Wie Sie beobachten, ist die Seele immer in Bewegung und Tätigkeit, ob wir schlafen oder wachen. Es mag sein, daß sie im Traum ein schwieriges Problem löst, das sie im wachen Zustand nicht lösen kann. Überdies kann der Verstand nichts begreifen, wenn die Sinne zu arbeiten aufhören. Im Embryonalzustand und in der frühen Kindheit ist die Verstandesmacht noch gar nicht da, indes die Seele immer mit voller Kraft ausgestattet ist. Kurz, es gibt viele Beweise, daß die Macht der Seele fortbesteht, auch wenn der Verstand verloren geht. Der Geist jedoch hat verschiedene Grade und Stufen.

+9 #16

Was das Vorhandensein des Geistes im Mineral anbelangt, so ist es sicher, daß das Mineral, den Erfordernissen seiner Stufe entsprechend, mit Geist und Leben ausgestattet ist. Auch dieses verborgene Geheimnis ist den Materialisten bekannt geworden. Jetzt behaupten sie, alle Dinge hätten Leben, wie Er im Quran spricht: "Alle Dinge sind belebt".

+10

Im Pflanzenreich kommt die Kraft des Wachstums hinzu, und diese Kraft ist der Geist. in der Tierwelt gibt es die Fähigkeit der Empfindung; im Reiche des Menschen ist jedoch eine allumfassende Macht vorhanden. Auf allen vorangehenden Stufen fehlt die Macht des Verstandes, aber die Seele ist da und offenbart sich. Die Fähigkeit der Empfindung begreift die Seele nicht, aber die Macht des Verstandes beweist ihr Vorhandensein.

+11

Ebenso beweist der Verstand das Vorhandensein einer unsichtbaren Wirklichkeit, die alle Lebewesen umfaßt, auf allen Stufen da ist und sich offenbart. Ihr Wesen aber liegt über dem Begriffsvermögen des Verstandes. Auch das Mineralreich kann ja das Wesen und die Vollkommenheiten der Pflanzenwelt nicht verstehen; die Pflanzenwelt begreift nicht das Wesen der Tierwelt, und das Tierreich kann die wesenhafte Wirklichkeit des Menschen, die alle Dinge entdeckt und umfaßt, nicht verstehen.

+12 #17

Das Tier ist der Gefangene der Natur, es kann die natürlichen Regeln und Gesetze nicht überschreiten. Im Menschen jedoch ist eine Forscherkraft, die über die natürliche Welt hinausreicht, deren Gesetze beherrscht und beeinflußt. Zum Beispiel sind alle Minerale, Pflanzen und Tiere Gefangene der Natur. Selbst die Sonne mir all ihrer Pracht ist der Natur derart untenan, daß sie keinen eigenen Willen hat und nicht um Haaresbreite von den Naturgesetzen abweichen kann. Ebensowenig können andere Wesen, ob sie nun dem Mineral-, dem Pflanzen- oder dem Tierreich angehören, von den Naturgesetzen abgehen; sie sind vielmehr allesamt Sklaven der Natur. Der Mensch dagegen, wenn auch körperlich ein Gefangener der Natur, ist in seinem Verstand und seiner Seele frei und herrscht über die Natur.

+13

Bedenken Sie: Nach dem Gesetz der Natur lebt und bewegt sich der Mensch auf der Erde; aber seine Seele und sein Verstand greifen in die Naturgesetze ein, und wie ein Vogel fliegt er durch die Luft. Mit großer Geschwindigkeit fährt er über das Meer, und wie ein Fisch taucht er in die Tiefe und treibt dort seine Forschungen. Das ist fürwahr ein großer Sieg über die Naturgesetze.

+14 #18

Ebenso steht es mit der Elektrizität. Diese unbändige Kraft, die Berge spaltet, bannt der Mensch in eine Glühlampe - ein offenbarer Eingriff in die Naturgesetze. Auch entdeckt der Mensch die verborgenen Geheimnisse der Natur, die nach den Naturgesetzen geheim bleiben sollen; aus dem Bereich des Unsichtbaren bringt er sie auf die Ebene des Sichtbaren - wiederum ein Eingriff in die Naturgesetze. Der Mensch dringt in die tiefsten Eigenheiten der Dinge, die zu den Geheimnissen der Natur gehören. Längst vergangene und vergessene Ereignisse bringt er ans Licht und schließt durch seine Kraft der Induktion auf künftige Geschehnisse, die noch unbekannt sein müßten. Nachrichtenaustausch und Wahrnehmung sind nach den Naturgesetzen auf kurze Entfernungen begrenzt; dennoch verbindet der Mensch den Osten und den Westen dank jener inneren Kraft, die die Wirklichkeiten aller Dinge entdeckt. Auch das ist ein Eingriff in die Naturgesetze. Alle Schatten sind nach dem Naturgesetz flüchtig; der Mensch jedoch bannt sie auf eine Platte - ein weiterer Eingriff in ein Naturgesetz. Überdenken Sie wohl: Alle Wissenschaften, Künste, Handfertigkeiten, Erfindungen und Entdeckungen waren Geheimnisse der Natur und müßten nach den Naturgesetzen verborgen bleiben; aber der Mensch greift durch seine Entdeckerkraft in die Naturgesetze ein und bringt jene verborgenen Geheimnisse aus dem Bereich des Unsichtbaren auf die Ebene des Sichtbaren. Dies sind alles Eingriffe in die Naturgesetze.

+15

Kurz, jene dem Menschen innewohnende, unsichtbare Geisteskraft reißt der Natur das Schwert aus der Hand und versetzt ihr einen schweren Schlag. Alle anderen Wesen, wie groß sie auch seien, sind dieser Vollkommenheiten beraubt. Der Mensch besitzt die Kräfte des Willens und des Verstehens, aber die Natur besitzt sie nicht. Die Natur ist gebunden, der Mensch frei. Die Natur ist ohne Versrand, der Mensch jedoch versteht. Die Natur weiß nichts von der Vergangenheit, der Mensch aber weiß um sie. Die Natur sieht die Zukunft nicht voraus, der Mensch aber erkennt dank seinem Unterscheidungsvermögen, was kommen wird. Die Natur ist ihrer selbst nicht bewußt ; der Mensch aber weiß um alle Dinge.

+16 #19

Wenn jemand annimmt, der Mensch sei nur ein Teil der natürlichen Welt, die Vollkommenheiten, die er besitzt, seien nur Erscheinungen der Natur und die Natur sei die Urheberin dieser Vollkommenheiten, deren sie folglich nicht ermangele, so antworten wir: Der Teil hängt vom Ganzen ab; er kann unmöglich Vollkommenheiten besitzen, die das Ganze nicht hat.

+17

Unter "Natur" sind die besonderen Eigenheiten und die zwangsläufigen Beziehungen zu verstehen, die aus den Wirklichkeiten der Dinge herrühren. Diele Wirklichkeiten der Dinge sind eng miteinander verknüpft, obwohl sie höchst mannigfaltig sind. Für diese mannigfaltigen Wirklichkeiten ist eine alles vereinigende Wirkkraft vonnöten, die sie miteinander verbindet. Zum Beispiel sind die Organe und Glieder, Teile und Elemente, die den menschlichen Körper bilden, äußerst verschieden, aber eine alles vereinigende Wirkkraft, die wir die menschliche Seele nennen, verbindet sie untereinander, läßt sie in vollkommener Harmonie und Regelmäßigkeit zusammenwirken und ermöglicht so den Fortbestand des Lebens. Der menschliche Körper ist sich dieser alles vereinenden Wirkkraft völlig unbewußt, und doch hält er sich an ihre Ordnung und arbeitet nach ihrem Willen.

+18 #20

Es gibt zweierlei Schulen von Philosophen. Sokrates der Weise glaubte an die Einheit Gottes und an das Leben der Seele nach dem Tode. Da seine Überzeugung den Ansichten seiner kurzsichtigen Zeitgenossen widersprach, vergiftete man diesen göttlichen Weisen. Alle göttlichen Philosophen, alle Menschen von Weisheit und Einsicht erkennen, wenn sie die unendliche Vielzahl der Lebewesen bedachten, daß in diesem großen, unermeßlichen Weltall alle Dinge im Mineralreich ihr Ende finden, daß aber das Ergebnis des Mineralreiches das Pflanzenreich, das Ergebnis des Pflanzenreiches das Tierreich, das Ergebnis des Tierreiches die Welt des Menschen ist. Die Vollendung dieses grenzenlosen Weltalls in seiner ganzen Größe und Herrlichkeit ist der Mensch, der sich in dieser Welt eine Zeitlang müht und von verschiedensten Leiden und SchMirzan quälen läßt; dann zerfällt er, ohne Spuren und Früchte zu hinterlassen. Wäre dem so, würde dieses unendliche Weltall zweifellos mit all seinen Vollkommenheiten zu nichts anderem führen als zu Wahn und Trug, ohne Ergebnis, ohne Frucht, ohne Beständigkeit, ohne Wirkung. Es wäre völlig sinnlos. Sie (die Philosophen) gewannen hieraus die Überzeugung, daß dem nicht so ist: Diese große Werkstatt mit all ihrer Macht, ihrer verwirrenden Großartigkeit und ihren unendlichen Vollkommenheiten kann nicht einfach in ein Nichts versinken. Somit ist sicher, daß es noch ein anderes Leben gibt, und wie das Pflanzenreich das Menschenreich nicht erahnen kann, so wissen auch wir nicht um das hehre Leben, das dem menschlichen Dasein hienieden folgt. Unser Nichtwissen um jenes Leben ist jedoch kein Beweis für sein Nichtsein. Auch das Mineralreich weiß zum Beispiel nichts von der Menschenwelt und kann sie nicht begreifen; aber Unkenntnis ist niemals eine Beweis für Nichtsein. Es gibt zahlreiche schlüssige Beweise dafür, daß diese unendliche Welt mit dem Menschenleben nicht aufhören kann.

+19 #21

Nun zum Wesen der Gottheit: In Wahrheit ist sie keineswegs durch irgend etwas anderes als sich selbst bestimmt, und es ist unmöglich, sie zu begreifen; denn alles, was der Mensch sich vorstellen kann, ist eine begrenzte, keine unbegrenzte, eine umfaßte, keine umfassende Wirklichkeit - eine Wirklichkeit, die vom Menschen begriffen werden kann und von ihm beherrscht wird. Ebenso ist gewiß, daß alle menschlichen Vorstellungen kontingent, nicht absolut sind; sie haben ein gedankliches, kein materielles Sein. Auch sind die Stufenunterschiede in dieser bedingten Welt ein Hindernis für das Verstehen. Wie also kann das Kontingente sich die Wirklichkeit des Absoluten vorstellen? Es ist, wie wir sagten: Die Unterscheidung von Stufen in der bedingten Welt ist ein Hindernis für das Verstehen.

+20

Mineralien, Pflanzen und Tiere entbehren der Verstandeskräfte, mit denen der Mensch die Wirklichkeiten aller Dinge entdeckt; nur der Mensch begreift die Stufen unter ihm. Jede höhere Stufe begreift die niedrigere und entdeckt deren Wirklichkeit, aber die niedrigere weiß nichts von der höheren und kann sie nicht begreifen, doch durch die Macht seiner Vernunft, durch Beobachtung, durch seine Einfühlungsgabe und durch die offenbarende Macht seines Glaubens kann er Gott anerkennen und Gottes Gnadengaben entdecken.

+21 #22

Er wird gewiß, daß überzeugende (geistige) Beweise das Sein jener unsichtbaren Wirklichkeit bestätigen, auch wenn das Wesen Gottes dem Auge verborgen ist und Gottes Sein nicht faßbar ist. Das Wesen Gottes, wie es in sich selbst besteht, ist jedoch über jede Beschreibung erhaben. So ist auch das Wesen des Äthers unbekannt; daß es ihn aber gibt, wird aus seinen Wirkungen deutlich: Wärme, Licht und Elektrizität sind seine Schwingungen. Durch diese Schwingungen wird das Dasein des Äthers bewiesen. Und wenn wir die Ausgießungen der göttlichen Gnade beobachten, werden wir des göttlichen Seins gewiß. Zum Beispiel beobachten wir, daß das Sein der Lebewesen von der Verbindung verschiedener Elemente abhängt, ihr Nichtsein hinwieder von der Auflösung dieser Bestandteile; denn Auflösung verursacht die Trennung der verschiedenen Elemente. Wenn wir so sehen, daß die Verbindung der Elemente Lebewesen ins Sein ruft, und wissen, daß die Lebewesen - also die Wirkung - unendlich sind, wie kann da die Ursache endlich sein?

+22

Nun gehen alle Gestaltungen auf dreierlei Art vor sich - eine vierte gibt es nicht: zufällig, zwangsläufig und gewollt. Das Zusammenkommen der verschiedenen Bestandteile der Lebewesen kann nicht zufällig sein; denn jede Wirkung setzt eine Ursache voraus. Sie kann nicht zwangsläufig sein; denn dann müßte die Gestaltung eine wesenhafte Eigenschaft der Bestandteile sein. Wesenhafte Eigenschaften einer Sache lassen sich aber nicht von ihr nennen. Das Licht etwa, das die Dinge offenbart, die Wärme, die die Teile sich ausdehnen läßt, und die Strahlen sind wesenhafte Eigenschaften der Sonne. Unter solchen Bedingungen könnte sich keine Gestaltung auflösen, da die wesenhaften Eigenschaften einer Sache nicht von ihr zu nennen sind. Es bleibt die dritte Gestaltung, die gewollte: Eine unsichtbare Kraft, die als die Altehrwürdige Macht beschrieben wird, veranlaßt diese Bestandteile zusammenzukommen, wobei jede Gestaltung ein besonderes Lebewesen entstehen läßt.

+23 #23

Die Eigenschaften und Vollkommenheiten, die wir jener göttlichen Wirklichkeit zuschreiben - Wille, Wissen, Macht und andere altehrwürdige Eigenschaften -, sind Zeichen, die das Sein der Lebewesen im Bereich des Sichtbaren widerspiegeln, nicht aber die absoluten Vollkommenheiten des göttlichen Wesens, die nicht begriffen werden können. Wenn wir zum Beispiel die erschaffenen Dinge betrachten, nehmen wir unendliche Vollkommenheiten wahr, und weil die erschaffenen Dinge von höchster Ordnung und Vollendung sind, folgern wir, daß jene Altehrwürdige Macht, von der das Sein dieser Lebewesen abhängt, nicht unwissend sein kann; wir sagen deshalb, sie sei allwissend. Es steht fest, daß sie nicht schwach sein kann; sie muß allmächtig sein. Sie ist nicht arm; sie muß allbesitzend sein. Sie ist keinesfalls nicht-seiend; sie muß also ewiglebend sein. Damit soll gezeigt werden, daß die Eigenschaften und Vollkommenheiten, die wir jener umfassenden Wirklichkeit zuschreiben, lediglich Unvollkommenheiten an ihr bestreiten, nicht aber diejenigen Vollkommenheiten, die der Menschengeist sich vorstellen kann, an ihr nachweisen sollen. Folglich sagen wir, daß ihre Eigenschaften unerforschlich sind.

+24 #24

Kurz, jene umfassende Wirklichkeit mit all den Merkmalen und Eigenschaften, die wir ihr zuschreiben, ist heilig und erhaben über allen menschlichen Geist und alles Verständnis. Aber wenn wir mit offenem Bewußtsein über dieses unendliche Weltall nachdenken, stellen wir fest, daß es ohne bewegende Kraft keine Bewegung, ohne Ursache keine Wirkung geben kann, daß jedes Lebewesen unter zahlreichen Einwirkungen entstanden ist und fortgesetzt Rückwirkungen durchmacht. Diese Einwirkungen geschehen als Auswirkungen wieder anderer Einwirkungen. Die Pflanzen zum Beispiel wachsen und blühen durch die Ströme der Frühlingsschauer, die Wolke entsteht durch verschiedene andere Kräfte; diese anderen Kräfte sind Rückwirkungen auf wieder andere Kräfte. Pflanzen und Tiere wachsen und gedeihen unter der Einwirkung dessen, was die Gelehrten unserer Tage als Wasserstoff und Sauerstoff bezeichnen; sie sind Rückwirkungen dieser beiden Elemente. Diese ihrerseits werden unter anderen Einwirkungen gestaltet. Das gleiche kann von anderen Lebewesen gesagt werden, ob sie nun auf wieder andere Lebewesen einwirken oder selbst unter deren Einwirkung stehen. Dieser Prozeß der Verursachung setzt sich fort; aber die Behauptung, er habe kein Ende, ist offenkundig absurd. So muß die Ursachenkette zwangsläufig am Ende zu Ihm führen, der der Ewiglebende, der Allmächtige, der Selbstbestehende und die Letzte Ursache ist. Diese Allumfassende Wirklichkeit kann nicht sinnlich wahrgenommen werden. Das muß zwangsläufig so sein; denn sie ist allumfassend und nicht begrenzt, und Eigenschaften kennzeichnen die Wirkung, nicht die Ursache.

+25 #25

Wenn wir weiter nachdenken, stellen wir fest, daß der Mensch wie eine winzige Mikrobe in einer Frucht ist. Diese Frucht hat sich aus der Blüte entwickelt, die Blüte ist aus dem Baum gewachsen, der Baum ernährt sich aus dem Pflanzensaft, und der Pflanzensaft ist aus Erde und Wasser gebildet. Wie kann nun diese kleine Mikrobe das Wesen des Gartens begreifen, sich den Gärtner vorstellen und dessen Sein verstehen? Dies ist offenbar unmöglich. Aber wenn jene Mikrobe Verstand hätte und nachdenken könnte, würde ihr klar, daß der Garten und der Baum, die Blüte und die Frucht niemals von selbst in solcher Ordnung und Vollkommenheit entstehen konnten. Auf gleiche Art erkennt die weise, nachdenkliche Seele mit Gewißheit, daß dieses unendliche All in seiner ganzen Herrlichkeit und Ordnung nicht von selbst entstanden sein kann.

+26

Auch in der Welt des Seins gibt es unsichtbare Kräfte wie die vorerwähnte Kraft des Äthers, die nicht sichtbar, nicht sinnlich wahrnehmbar ist. Doch durch die Wirkungen, die der Äther hervorruft, durch seine Wellen und Schwingungen, erscheinen Licht, Wärme und Elektrizität und werden offenbar. Das gleiche gilt für die Kräfte des Wachstums, der Empfindung, des Verstehens, des Denkens, des Erinnerns, der Vorstellung und der Unterscheidung. Alle diese inneren Fähigkeiten sind weder sichtbar noch wahrnehmbar; dennoch werden sie offenkundig durch die Wirkungen, die sie hervorbringen.

Was nun die Macht betrifft, die keine Grenzen kennt, so ist Begrenzung der Beweis für das Vorhandensein des Unbegrenzten; denn das Begrenzte wird durch das Unbegrenzte erkannt, so wie die Schwäche der Beweis dafür ist, daß es Kraft gibt. Ohne Wohlstand gäbe es keine Armut, ohne Wissen keine Unwissenheit, ohne Licht keine Finsternis. Die Finsternis ist ein Beweis für das Vorhandensein des Lichtes, denn Finsternis bedeutet Fehlen von Licht.

+27 #26

Was die Natur angeht, so besteht sie nur aus den wesentlichen Eigenheiten und den zwangsläufigen Beziehungen, die den Wirklichkeiten der Dinge innewohnen. Obwohl diese unendlichen Wirklichkeiten wesensverschieden sind, stehen sie doch in innigster Eintracht und enger Verbindung zueinander. In dem Maße, wie der Mensch seinen Blick weitet und scharf beobachtet, wird er gewahr, daß jede Wirklichkeit nichts als eine wesentliche Voraussetzung anderer Wirklichkeiten ist. Um all diese verschiedenen, unendlichen Wirklichkeiten zu verbinden und in Einklang zu bringen, ist eine alles vereinende Macht vonnöten, die bewirkt, daß jeder Teil des Seins in vollendeter Ordnung seine Aufgabe erfüllt. Betrachten Sie etwa den menschlichen Körper und nehmen Sie an ihm den Teil als Modell für das Ganze. Sehen Sie, wie die verschiedenen Teile und Glieder dieses Körpers eng und einträchtig miteinander verbunden sind. Jeder Teil ist eine wesenhafte Voraussetzung aller anderen Teile, und jeder hat seine besondere Aufgabe. Doch die Seele, die alles vereinende Kraft, verbindet alle Bestandteile so miteinander, daß sie ihre besonderen Aufgaben in vollendeter Ordnung erfüllen; Zusammenarbeit und Rückwirkungen werden auf diese Weise möglich. Alle Teile arbeiten nach gewissen Gesetzen, die lebensnotwendig sind. Wird jene alles vereinende Kraft, die alle Teile steuert, auf irgendeine Weise gestört, dann hören die Bestandteile zweifellos auf, ordnungsgemäß zu arbeiten. Und obwohl die alles vereinende Kraft im menschlichen Tempel weder sichtbar noch wahrnehmbar ist, obwohl sie ihrem Wesen nach unbekannt ist, offenbart sie sich doch mit ganzer Macht durch ihre Wirkungen.

+28 #27

Damit ist bewiesen und dargelegt, daß die unendlich vielen Lebewesen in diesem wundersamen Weltall nur dann ihre Aufgaben richtig erfüllen, wenn sie von jener Allumfassenden Wirklichkeit so gesteuert und überwacht werden, daß Ordnung in der Welt errichtet ist. Zum Beispiel sind Wechselwirkung und Zusammenarbeit zwischen den Bestandteilen des menschlichen Körpers offenkundig und unbestreitbar; das aber ist nicht genug. Eine alles vereinende Kraft ist notwendig, die die Bestandteile steuert und überwacht, damit sie durch Wechselwirkung und Zusammenarbeit ihre notwendigen besonderen Aufgaben in vollkommener Ordnung erfüllen.

+29

Sie wissen genau - gepriesen sei der Herr -, daß Wechselwirkung und Zusammenarbeit zwischen allen Lebewesen, ob groß oder klein, offenkundig und bewiesen sind. Im Falle großer Körper ist die Wechselwirkung so offenbar wie die Sonne; bei kleinen Körpern mag sie unerkannt bleiben, aber der Teil ist ein Zeichen für das Ganze. Alle diese Wechselwirkungen sind folglich mit jener alles umfassenden Kraft verbunden; sie ist ihr Angelpunkt, ihre Mitte, ihr Ursprung und ihr Antrieb.

+30 #28

Wie wir sahen, ist die Zusammenarbeit zwischen den Bestandteilen des menschlichen Körpers klar erwiesen ; die Teile und Glieder leisten allen anderen Körperteilen ihre Dienste. Zum Beispiel helfen Hand, Fuß, Auge, Ohr, Verstand und Vorstellungskraft den verschiedenen Teilen und Gliedern des Körpers, aber alle diese Wechselwirkungen sind durch eine unsichtbare, alles umfassende Kraft verknüpft; sie bewirkt, daß diese Wechselwirkungen mit vollkommener Regelmäßigkeit hergestellt werden. Es handelt sich um die innere Fähigkeit des Menschen, das heißt, um seinen Geist und seine Seele, die beide unsichtbar sind.

+31

Beobachten Sie in der gleichen Weise Maschinen und Werkstätten; achten Sie auf die Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Bestandteilen und Arbeitsgruppen, wie eng sie eines mit dem anderen verbunden sind. Alle diese Beziehungen und Wechselwirkungen sind jedoch mit einer zentralen Macht verknüpft, die ihr Antrieb, ihr Angelpunkt und ihr Ursprung ist. Dies kann die Kraft des Dampfes sein oder das Geschick des unternehmerischen Geistes.

+32

Somit ist klar erwiesen, daß die Wechselwirkung, die Zusammenarbeit und die gegenseitigen Beziehungen zwischen den Lebewesen der Steuerung und dem Willen einer bewegenden Macht unterliegen; sie ist der Ursprung, der Antrieb und der Angelpunkt aller Wechselwirkungen des Weltalls.

+33 #29

Jede Anordnung und Gestaltung, die nicht vollkommen in ihrer Ordnung ist, bezeichnen wir als zufällig; ist sie aber geordnet, regelmäßig und vollkommen in ihren Beziehungen, steht jeder Teil am richtigen Platz, bildet jeder Bestandteil eine wesentliche Voraussetzung für alle anderen, dann sprechen wir von einem Gebilde, das durch Willen und Wissen gestaltet wurde. Ohne jeden Zweifel sind diese unendlichen Lebewesen, ist die Vereinigung dieser verschiedenen Elemente zu unzähligen Formen von einer Wirklichkeit ausgegangen, die keineswegs ohne Willen und Verstand sein kann. Das ist für den menschlichen Geist klar erwiesen, und niemand kann es leugnen. Es bedeutet jedoch nicht, daß wir jene umfassende Wirklichkeit oder deren Eigenschaften begriffen. Weder ihr Wesen noch ihre wahren Eigenschaften sind von irgend jemandem erfaßt worden ; aber wir halten daran fest, daß diese unendlichen Lebewesen, diese zwangsläufigen Beziehungen, diese vollkommene Anordnung notwendigerweise von einem Ursprung ausgehen, der des Willens und der Vernunft nicht ermangelt, und daß diese unendliche Gestaltung, die sich in unendlich viele Formen ergießt, von einer allumfassenden Weisheit verursacht worden sein muß. Dies kann nur bestreiten, wer halsstarrig und verstockt ist, wer klare, unmißverständliche Zeichen abweist und so zum Gegenstand des heiligen Verses wird: "Taub, stumm und blind sind sie - darum finden sie keine Umkehr" (Quran 2:19).

+34

Nun zu der Frage, ob die Fähigkeiten des Geistes und die Seele des Menschen ein und dasselbe sind: Die Geisteskräfte sind nur Eigenbesitz der Seele, so etwa Vorstellungskraft, Denkkraft, Verständnis - alles Kräfte, die wesentliche Voraussetzungen der menschlichen Wirklichkeit sind, so wie der Sonnenstrahl Eigenbesitz der Sonne ist. Der Tempel (Körper) des Menschen ist wie ein Spiegel, seine Seele ist wie die Sonne, und seine Geisteskräfte sind wie die Strahlen, die von dieser Lichtquelle ausgehen. Der Strahl kann aufhören, auf den Spiegel zu fallen, aber er kann nicht von der Sonne getrennt werden.

+35 #30

Kurz, der wesentliche Punkt ist der, daß die Welt des Menschen im Verhältnis zum Pflanzenreich übernatürlich ist - in Wirklichkeit ist sie dies selbstverständlich nicht. Auf die Pflanze bezogen, ist die Wirklichkeit des Menschen, sein Hör- und Sehvermögen, übernatürlich. Für die Pflanze ist es unmöglich, diese Wirklichkeit und das Wesen der menschlichen Geisteskraft zu erfassen. So ist es auch für den Menschen völlig unmöglich, das Wesen des Göttlichen und des Lebens nach dem Tode zu begreifen. Die Gnadengaben des Göttlichen ergießen sich jedoch auf alle Lebewesen, und der Mensch hat die Pflicht, in seinem Herzen über diese Ausgießungen der göttlichen Gnade, zu denen auch seine Seele gehört, nachzudenken - nicht aber über das Wesen der Gottheit. Hier liegt die Grenze menschlichen Begreifens. Wie bereits gesagt, sind die Eigenschaften und Vollkommenheiten, die wir vom Wesen der Gottheit berichten, dem Dasein und der Beobachtung der Lebewesen entnommen, und es ist keineswegs so, daß wir damit Gott in Seinem Wesen und in Seiner Vollkommenheit begriffen hätten. Wenn wir sagen, die göttliche Wirklichkeit sei vernünftig und frei, bedeutet dies nicht, daß wir den Willen und die Absicht Gottes entdeckt hätten, sondern daß wir durch die göttlichen Gnadengaben, die sich in den Wirklichkeiten der Dinge kundtun und offenbaren, Wissen um den Willen und die Absicht Gottes erworben haben.

+36 #31

Zu unseren gesellschaftspolitischen Grundsätzen: Die Lehren Seiner Heiligkeit Bahá'u'lláhs, die schon vor 50 Jahren (um 1870) weit verbreitet wurden, umfassen alle anderen Lehren. Es ist klar erwiesen, daß die Menschheit ohne diese Lehren in keiner Weise fortschreiten und vorankommen kann. Jede Gemeinschaft auf der Welt findet in diesen göttlichen Lehren die Verwirklichung ihres höchsten Strebens. Sie sind wie ein Baum, der unter allen Bäumen die besten Früchte trägt. Die Philosophen zum Beispiel sehen in diesen himmlischen Lehren die vollkommene Lösung ihrer gesellschaftlichen Probleme und gleichzeitig eine wahre, vornehme Darlegung von Sachverhalten, die sich auf philosophische Fragen beziehen. Religiöse Menschen schauen die Wirklichkeit der Religion in diesen himmlischen Lehren deutlich offenbart; klar und schlüssig finden sie bewiesen, daß diese Lehren das wirkliche Heilmittel für die Leiden und Gebrechen der ganzen Menschheit sind. Wenn diese erhabenen Lehren Verbreitung finden, wird die Menschheit von allen Gefahren, von allen ihren chronischen Leiden und Krankheiten befreit. So verkörpern die Bahá'í-Grundsätze für das Wirtschaftsleben die höchsten Bestrebungen aller lohnabhängigen Klassen wie auch diejenigen der verschiedenen wirtschaftswissenschaftlichen Schulen.

+37

Kurz, alle Interessengruppen und Parteien finden ihre Ziele in den Lehren Bahá'u'lláhs verwirklicht. Wenn diese Lehren in Kirchen, Moscheen und anderen Andachtsstätten - sei es bei den Anhängern Buddhas oder denen des Konfuzius -, in politischen Zirkeln oder unter den Materialisten verkündet werden, müssen alle bezeugen, daß diese Lehren der Menschheit neues Leben verleihen und das rasch wirksame Heilmittel für alle Krankheiten des Gesellschaftslebens sind. Niemand kann an irgendeiner dieser Lehren etwas auszusetzen haben; einmal dargelegt, werden sie alle Beifall finden. Jeder wird bekennen, wie lebenswichtig diese Lehren sind, und wird ausrufen: "Dies ist gewißlich die Wahrheit, und neben der Wahrheit gibt es nichts als offenkundigen Irrtum".

+38

Diese wenigen Worte sind nun aufgezeichnet, und sie werden für jeden ein klarer, schlüssiger Beweis der Wahrheit sein. Denken Sie in Ihrem Herzen darüber nach! Der Wille jedes Philosophen findet bei einer Handvoll Schüler zu seinen Lebzeiten Ausdruck. Aber die Macht des Heiligen Geistes strahlt hell aus der Wirklichkeit der Gottesboten und stählt deren Willen in solcher Weise, daß er ein großes Volk über Jahrtausende hin beeinflußt, die Menschenseele neu erschafft und die ganze Menschheit neu belebt. Bedenken Sie, wie groß diese Macht ist! Es ist eine ungewöhnliche Macht, ein allgenügender Beweis für die Wahrheit in der Sendung der Propheten Gottes, ein untrügliches Zeichen für die Kraft göttlicher Eingebung.

Die Herrlichkeit des Allherrlichen sei mit Ihnen!
Haifa, 21. September1921
(gez.) Abdu'l-Bahá Abbás
#33
Die Welt als Gestaltung
Zum Verständnis des Briefs an Forel

Es war eine Jahrhundertbegegnung, auch wenn sie nur in einem Briefwechsel bestand.

I

August Henri Forel, am 1. September 1848 in Morges (Kanton Waadt, Schweiz) geboren, gehörte zu den unermüdlichen Vorkämpfern der zweiten, der biologischen Aufklärung. Seine Lebenserinnemngen¹ sind - über die zahlreichen Biographien² hinaus - ein großartiges Dokument der Entwicklung eines überragenden Geistes im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert. Die Kindheit inmitten einer Patrizierfamilie, unweit des Genfer Sees in ländlicher Umgebung verbracht, steht unter dem Eindruck der streng calvinistischen Mutter, die den kleinen Jungen mit Religion überfüttert. Der Achtjährige wünscht, nie geboren worden zu sein, der Heranwachsende ist, wie der psychosomatisch denkende Autobiograph festhält, "hoch aufgeschossen, sehr muskelschwach, in allen körperlichen Übungen außer dem Davonlaufen minderwertig", und der große Fleiß in der Schule, der hinzukommt, trägt ihm den Spitznamen "Perdrix" (Rebhuhn) ein. Aber da ist ein Onkel Edouard als Gegenpol der - sehr geliebten - Mutter. Er führt den Jungen an die Freuden der Naturforschung heran, und dieser "tröstet sich immer wieder bei den Ameisen" über das Christentum und sein "mystisches Blendwerk" hinweg. Noch bevor er Student ist, erwirbt er sich mit einer Beschreibung der Ameisen in der Schweiz die Anerkennung der Fachwelt. Über der Lektüre Darwins keimt der Monismus als Weltanschauung in ihm auf, der Glaube, daß alles Seiende aus einem einzigen Prinzip heraus entwickelt sei, im Gegensatz zum Dualismus der gealterten christlichen Religion, in der das Geistige überscharf vom Natürlichen geschieden und dogmatisch verkrustet ist.

¹ August Henri Forel, "Rückblick auf mein Leben", Büchergilde Gutenberg, Zürich 1935

² z.B. Annemarie Wettley, "August Forel. Ein Arztleben im Zwiespalt seiner Zeit", Otto Müller Verlag, Salzburg 1953

Forel studiert Medizin. Im Winter 1870 / 71 meldet er sich zum Hilfsdienst in einem Kriegslazarett bei Belfort. Daß er sich nach seiner Promotion auf die bis dahin noch fast völlig im Dunkeln liegende Anatomie des menschlichen Gehirns stürzt, liegt nahe, wenn man sich das Bedürfnis vergegenwärtigt, vor sich selbst, seiner Mutter und allen anderen seinen Gegenglauben zu beweisen. In München entdeckt er die "bayrische Bierniere" bei Paralyrikern und legt den Grundstein für seine spätere Alkoholgegnerschaft. Der Satz in seiner Habilitationsschrift "Sämtliche Eigenschaften der menschlichen Seele können aus den Eigenschaften der Seele höherer Tiere abgeleitet werden" bringt seinen alten Anatomieprofessor an den Rand eines Schlaganfalls.

Als Psychiater übt er sich in Selbstcharakterisierung und findet sich "redselig, voreilig und zu scharf urteilend, ausdauernd, richtige Gedanken rasch realisierend ... Durch einen Pessimismus, bei welchem man von der Welt nichts, von sich alles erwartet, gelangt man allmählich am sichersten zu einem gesunden und dauerhaften Optimismus". Er habe ein Gedächtnis nur für Wichtiges, habe gern "rasch einen Strich durch die Vergangenheit gezogen und immer vorwärts in die Zukunft geschaut". Seine Phantasie lasse er ausschließlich intellektuell spielen.

So ist er für den ersten großen Kampf seines Lebens gut gerüstet: die Leitung der Irrenanstalt Burghölzli bei Zürich, die er 1879, mit 31 Jahren, neben der Professur für Nervenheilkunde an der Universität Zürich, übertragen bekommt. Er findet einen Augiasstall vor und setzt sich durch: gegen den korrupten Verwalter, gegen die unentschlossene Kantonsregierung, gegen das disziplinlose Personal, gegen Arztkollegen, die seinen neuen Methoden gegenüber skeptisch sind. Seine junge Frau und eine kleine Schar enger Mitarbeiter sind ihm verläßliche Stützen. Zum wissenschaftlichen Forschen und Beschreiben hinzu lernt er, für gesichertes Ideengut öffentlich in Wort und Schrift zu agitieren und politisch zu taktieren. Zunächst ist es die Hypnose, auf deren Erforschung und medizinische Anwendung er maßgeblichen Einfluß nimmt; sein grundlegendes Werk darüber erreicht bis 1923 zwölf Auflagen. In der Praxis der Irrenanstalt entdeckt er bald, welch verhängnisvollen Beitrag der Alkohol zum seelischen und sozialen Elend der Menschheit leistet.

Er sieht ein, daß er ohne persönliche Abstinenz auf Trinker nicht heilend einwirken kann, und "richtige Gedanken rasch realisierend", unterschreibt er mit seiner Frau ein Abstinenzversprechen auf zwei Jahre. Im Jahre 1887 gilt so etwas noch als vollendeter Beweis unverbesserlicher Schrulligkeit; eine Zeitung erklärt ihn für "den verrücktesten aller Geisteskranken in der Irrenanstalt Burghölzli". Aber Forel hält durch, gründet mit dem frommen Schuster Boßhardt eine erfolgreiche Trinkerheilstätte und stürzt sich in den öffentlichen Kampf gegen die Trunksucht. Hauptgegner seiner Agitation sind die Mäßigungsapostel, hinter denen sein politischer Spürsinn rasch die Interessen der Brauereien und Brennereien entdeckt und deren Argumente er wissenschaftlich entlarvt. Diesem Zweck dient auch ein Selbstversuch: Nach Ablauf der bewußten zwei Jahre beginnt er, wieder mäßig zu trinken, und notiert genau den dabei festgestellten Leistungsabfall, um sich bald danach endgültig zur völligen Abstinenz zu bekennen. Für seinen Standpunkt, jeder Leiter einer Irrenanstalt müsse abstinent sein, kann er eine ganze Reihe von Kollegen gewinnen.

Mehr und mehr nimmt der Kampf gegen den Alkohol bei Forel religiöse Züge an. Der Alkohol ist ihm ein Kulturgift, ja die realisierte Erbsünde. Er fühlt die Verpflichtung, selbst ins Volk zu gehen, und sträubt sich innerlich dagegen, daß erfolgreiche Trinkerheilung bislang mit irrationaler religiöser Bekehrung und Erweckung eng verknüpft ist. Belehrt werden müssen alle, nicht nur die, welche glauben können. Auch erweitert Forel das Problem Alkohol zum Problem der sozialen Hygiene schlechthin, die ihm zur Grundlage des Kulturfortschritts wird. Die frühen Forschungsergebnisse der Vererbungslehre auferlegen schwere Verpflichtungen. Was später bei dem Morartheologen und Mediziner Albert Schweitzer die "Ehrfurcht vor dem Leben" werden wird, konkretisiert sich bei dem Insektenforscher und Psychiater Forel zu einer "Ehrfurcht vor dem Keimplasma" als Träger des höheren Lebens, und alle schädigenden Einflüsse auf dieses Keimplasma werden zur Sünde schlechthin. 1892 gründet Forel die erste Guttemplerloge in der Schweiz; aber gleich zu Beginn seiner rührigen Arbeit für diese rein humanitäre Kampfvereinigung gegen den Alkoholismus erwägt er, ob nicht der Sozialismus der erweiterte Rahmen für seinen Kampf gegen die Unkultur sein müsse, und über diesen hinaus ein militanter Pazifismus.

So ist es bald die gesamte Kultur der Gattung Mensch, um die sich Forel als Arzt sorgen zu müssen glaubt. Der Naturforscher Forel studiert von frühester Kindheit an die höchst entwickelten Sozialorganismen, diejenigen der Ameisen, der Kryptocalvinist Forel steht unter einem starken Zwang zur Selbstverwirklichung im Dienst der Gesellschaft, dem Arzt und Anstaltsdirektor Forel brennt die praktische und seelische Not der unteren Gesellschaftsschichten auf den Nägeln, und der Monist und Evolutionsforscher Forel glaubt an die Lehren der neuen, der biologischen Aufklärung, die es im Volk zu verbreiten gilt, um die schweren Schäden der neuen industriellen Lebensbedingungen und der alten menschlichen Dummheit und Lasterhaftigkeit zu beseitigen oder doch wenigstens einzudämmen. Forel muß Missionar, ja Apostel oder gar Prophet werden. 1898, mit 50 Jahren, kündigt er seine Direktorstelle in der Irrenanstalt Burghölzli und läßt sich von seiner Professur beurlauben, um sich in seiner waadtländischen Heimat als frei praktizierender Nervenarzt und Schriftsteller niederzulassen. Daneben unternimmt er ausgedehnte Vortragsreisen über Europa hinaus. Auf Dutzenden von Kongressen steht er als überzeugender Redner und geachtetes Vorbild im Mittelpunkt. "Wer kann ihn sehen und hören, ohne ihn zu lieben?" fragt 1901 ein Tagungspräsident nach Forels Vortrag, und die Versammlung klatscht anhaltend Beifall.

Wo die Grenzen von Forels "darwinistischmechanistischem Standpunkt" (Wettley, S. 109) verlaufen, zeigt sich zum Beispiel an seinem Buch "Die sexuelle Frage", das bis 1942 Dutzende von Auflagen erlebte und in 23 Sprachen übersetzt wurde. Forel geht von der Gewinnsucht, dem "Erotismus" und der Religiosität des Menschen aus, die zu den verschiedensten Erscheinungen bis hin zur ekstatisch-erotischen oder zur asketischen Form der Mystik führen. Gelten läßt er nur den Zweck der Fortpflanzung. "Somit muß sich jeder Lösungsversuch der sexuellen Frage auf die Zukunft und auf das Glück unserer Nachkommen richten". Es ist dieselbe amusische Grundhaltung, aus der heraus ihm jedes Verständnis für das großartige Bild abgeht, das Oskar Kokoschka 1909 von ihm man, derselbe Rationalismus, mit dem er die tiefenpsychologischen Forschungen Sigmund Freuds als "Übertreibungen" abtut und nach einer Tagung von Psychoanalytikern in Zürich festhält, es seien wieder "die übliche Eitelkeit und Selbstüberschätzung" und "abgeschmackter Unsinn" zur Geltung gekommen¹.

¹ August Henri Forel, "Rückblick auf mein Leben", Zürich 1935, p.235

Wie in der "sexuellen Frage" nach Forel alles darauf ankommt, daß sie "vom immanenten Zweck" der "Fortpflanzung" her, "vor allem naturwissenschaftlich, psychologich-physiologisch und soziologisch behandelt" wird, so geht er auch in vielen Vorträgen und Schriften mit den großen politischen Fragen seiner Zeit zu Werk. Einige Titelbeispiele zeigen, wie breit das Feld der Fragen ist, zu denen sich Forel äußerte, und nachdem Abdu'l-Bahá Forels Werke als "zweifellos sehr segensreich" bezeichnete, sollten wir sie durchaus als einen wertvollen Ausdruck des Zeitgeistes in Erinnerung behalten:

- Jugend, Evolution, Kultur und Narkose. München 1908

- Malthusianismus oder Eugenik. München 1908

- Die Vereinigten Staaten der Erde. Ein Kulturprogramm. München 1914/15

- Genug zerstört, wieder aufbauen. Zürich 1916
- Der supranationale Friede. 1916

- Die Zukunft des Strafrechts. Ethik der Zukunft. 1921

- Der Weg zur Kultur. Wien 1924
- Der wahre Sozialismus der Zukunft. Berlin 1926.

- Die Rolle der Heuchelei, der Beschränktheit und der Unwissenheit in der landläufigen Moral. München 1908

Und doch fehlt etwas in diesem rastlosen Wirken für die Sozialhygiene, den Frieden und den Kulturfortschritt. Forel spürt es selbst in dem Maß, wie er alt und krank wird und schwere Schicksalsschläge über ihn hereinbrechen. Der Monismus, von dem er nicht ablassen will, ist eine recht unpersönliche Weltanschauung; es tut auf Dauer nicht gut, sich zu sehr von des Geschickes Mächten abhängig zu wissen, auch wenn man diese Mächte nach und nach wissenschaftlich durchleuchtet. So können wir die Wirkung verstehen, die bei dem 72jährigen Forel eintrat, als er 1920 in Karlsruhe, im Hause seines Schwiegersohnes Dr. Artur Brauns, zum erstenmal von der Bahá'í-Religion hörte. Vor allem die Berichte über das Leben und Wirken Abdu'l-Bahás müssen Forel stark beeindruckt haben.

#40
II

Wer war Abdu'l-Bahá? Wer ist und bleibt Er? Bahá'u'lláh (1817-1892), der prophetische Begründer der Bahá'í-Religion, nannte Ihn, Seinen erstgeborenen Sohn, "das Geheimnis Gottes"; wir werden dieses Geheimnis nie ganz ergründen können. Halten wir uns also an die Daten:

Abdu'l-Bahá ist am 23. Mai 1844, vier Jahre vor Forel, geboren, in Tihrán am selben Tag, an dem in Shíraz der Báb (1819-1850) Seine Sendung verkündete, eine neue religiöse Offenbarung einzuleiten und den Weg für "Den, den Gott offenbaren wird" (Bahá'u'lláh), zu bereiten. 'Abdu'l-Bahá ist sechs Jahre alt, als der Báb in Tabríz selbst zum Blutzeugen Seiner Sendung wird, und im Alter von acht Jahren - im selben Alter, in dem der junge Forel vor lauter Skrupeln und Zweifeln wünscht, nie geboren worden zu sein - darf Abdu'l-Bahá von fern beobachten, wie Sein über alles geliebter Vater in schweren Ketten aus dem "Schwarzen Loch", dem Kerker des Sháh in Tihrán, einige Minuten ans Sonnenlicht geführt wird. Kurz darauf beginnt eine Zeit der Verbannung und Erniedrigung, die für Abdu'l-Bahá, den Enkel eines Ministers aus altem persischem Adel, bis zu Seinem 65. Lebensjahr dauert. Die erste Station nach einem Wintermarsch durchs Gebirge ist Baghdád; dort ist der Heranwachsende der Erste, der Seinen Vater als den Verheißenen aller Religionen der Vergangenheit erkennt, lange bevor Bahá'u'lláh sich 1863 öffentlich erklärt. Wie es der Name, den Er annimmt, ausdrückt - 'Abdu'l-Bahá ist arabisch und bedeutet "Diener Bahá'u'lláhs" -, stellt 'Abdu'l-Bahá Sein ganzes Leben unter die Aufgabe, die "Sache Gottes" zu verkünden und zu verteidigen. Überall auf dem langen Verbannungsweg, in Konstantinopel, Adrianopel und ab 1868 in der Gefängnisstadt 'Akká, offenbart Er in triumphierender, leidgestählter Durchgeistigung diejenigen Eigenschaften und Kräfte, auf welche Bahá'u'lláh die Zukunft Seiner weltweiten Glaubensgemeinschaft gründete, und in Seinem Testament setzt Bahá'u'lláh 'Abdu'l-Bahá als Vorbild religiösen Lebens, als Ausleger Seines Wortes und als Mittelpunkt Seines Bündnisses ein.

Zwischen 1892 und 1908 sind die Verfolgungen für Abdu'l-Bahá besonders hart; dann befreit Ihn wie viele andere politische und religiöse Gefangene die Jungtürkische Revolution. Die bis dahin seltenen Kontakte mit dem Westen können aufgebaut werden; 1911 bis 1913 reist 'Abdu'l-Bahá durch Europa und Nordamerika, besucht die jungen Bahá'í-Gemeinden, festigt ihren Glauben vor der drohenden Katastrophe des Ersten Weltkrieges, die Er klar vorausschaut, und spricht zu zahllosen öffentlichen Versammlungen in Universitäten, Kirchen, Friedensvereinigungen und menschenfreundlichen Gesellschaften. Bei vielen prominenten Persönlichkeiten, bei hoch und niedrig, hinterlassen Seine Ansprachen in ihrer klaren, systematischen Zusammenfassung der Anliegen geistiger Kultur und aufgeklärter Religion einen nachhaltigen Eindruck. Als "Ansprachen in Paris", "Beantwortete Fragen", "The Promulgation of Universal Peace" und in Tausenden von "Tablets" sind Seine Gedanken festgeschrieben, und Abhandlungen wie "Das Geheimnis göttlicher Kultur" führen die aktuellsten politischen Probleme auf ewige Wahrheiten zurück. Während des Weltkrieges im Heiligen Land isoliert, festigt Abdu'l-Bahá die kleine dortige Gemeinde durch Erinnerungen an die großen Vorbilder des jungen Glaubens ("Memorials of the Faithful"¹); zugleich fordert Er die Bahá'í des Westens auf, die Verbreitung der Sache Bahá'u'lláhs nach Seinem Beispiel fortzusetzen und als "Pioniere" zielbewußt in alle Länder des Planeten zu reisen.

¹ Wilmette, Illinois, USA, 1971

Als General Allenby im Spätsommer 1918 Haifa von der türkischen Herrschaft befreit, kabelt er nach London: "Habe heute Palästina eingenommen. Verständigte die Welt, daß Abdu'l-Bahá in Sicherheit ist". Die Ritterschaft des Britischen Empires akzeptiert Abdu'l-Bahá als "Ehrengeschenk eines gerechten Königs", und Seine Bestattung im November 1921 ist die volkreichste Demonstration für die geistige Einheit der Religionen, die das Heilige Land bis dahin je erlebt hat.

#43
III

Worum geht es in dem Brief, den Shoghi Effendi (1896-1957), der von Abdu'l-Bahá eingesetzte "Hüter der Sache Gottes", als "eines der schwerstwiegenden Sendschreiben, die Er je geschrieben hat"¹, wertet?

¹ Shoghi Effendi, "Gott geht vorüber", Oxford 1954 und Langenhain 1974 p.350

Forel führt sich ein als Monisten. Für ihn ist die Welt ein durchgehendes Ganzes. Dieses Ganze läßt sich zwar in Stufen, Formen, Klassen, Arten usw. unterteilen; aber solche Unterteilungen sind intellektuelle Hilfsmittel, so wie es die Längen- und Breitengrade auf unserem Globus sind. Die menschliche Kultur ist also die - vermutlich, aber nicht sicherlich - höchste Stufe oder Form der Entwicklung, die in diesem Universum möglich ist, und Gott ist für Forel, wie er wörtlich schreibt, "nichts als das - mutmaßlich absolute, aber für den Menschen absolut unerkennbare - Wesen des Universums". Er läßt offen und will, von seinem Bewußtsein als "absoluter Agnostiker" her, auch gar nicht klären, ob dieser Gott als "Wesen des Universums" nun ebenfalls eine intellektuelle Konstruktion wie die Meridiane auf unserem Globus ist, oder ob dieser Gott Substanz, folglich auch "Eigenschaften" und womöglich "Absichten" hat. Die Frage danach bezeichnet Forel als "absolut nutzlos", und man braucht kein Tiefenpsychologe zu sein um festzustellen, daß hier eine echte Verdrängung vorliegt, auch unter rein intellektuell-wissenschaftlichen Gesichtspunkten; Forel wittert hinter den möglichen Fragen nach den Eigenschaften und Absichten Gottes den Dogmatismus, den er bei seiner calvinistischen Mutter oder bei einem jesuitischen Freund erlebt hat. Er weiß, daß mit dogmatisch gebundenen Menschen intellektuelle Diskussionen mit logischen Mitteln kaum möglich sind. Unterbewußt hat er aber durchaus das Bedürfnis, in dieser Frage überzeugt zu werden und an dem wie auch immer vorgestellten Wesen des Universums, das Gott ist, Eigenschaften und Absichten zu erkennen; denn er lebt in einer furchtbaren, umfassenden Angst, der Angst vor dem Untergang der gesamten menschlichen Kultur.

Auch damals, als der junge Dozent Forel seine Münchener Professoren schockierte, ging es um Eigenschaften, um diejenigen der menschlichen Seele nämlich, deren "sämtliche Eigenschaften sich", Forel zufolge, "aus den Eigenschaften der Seele höherer Tiere ableiten" lassen. Dem Wissenschaftler Forel ist es unmöglich, Unterschiede zwischen Mensch und Tier zu beweisen. Wie, wenn die menschliche Kultur nur eine kurze, vorübergehende Episode in der Milliarden Jahre langen Naturgeschichte ist? Wie, wenn das Menschengeschlecht an seiner eigenen Dummheit und Böswilligkeit zugrunde geht, an denjenigen Eigenschaften, die sich aus den Eigenschaften der höheren Tiere ableiten lassen und die weder die Religion in Jahrtausenden noch die neuerworbene Wissenschaft in Jahrzehnten beseitigen konnte, ehe sie im Chaos des Ersten Weltkriegs aufbrachen? Wie, wenn der nachweisliche Degenerationsprozeß tatsächlich fortschreitet, bis zum Beispiel diejenigen sozialisierten Tierarten, die Forel unermüdlich studiert hat, die Ameisen, die Oberhand gewinnen und den Menschen in der Weltherrschaft ablösen? Wir wollen nicht versäumen hier anzumerken, daß einige der schlimmsten Zukunftsromane der zwanziger Jahre auf Forels Forschungen und Ideen zurückgeführt werden. Eine typisch Forel'sche Grundfrage lautete lange Zeit: "Was können wir tun, um ameisenähnlicher zu werden und zugleich Mensch zu bleiben?"

Diese verdrängten metaphysischen Fragen quälen den alten Forel umso mehr, als er nicht nur vom sicheren schweizerischen Beobachterposten aus den Ersten Weltkrieg miterlebt, sondern auch selbst schwer unter Alterskrankheiten leidet und durch den Tod seines ältesten Sohnes, der kurz nach der medizinischen Staatsprüfung an einer Embolie stirbt, seine größte Hoffnung zerschlagen sieht. Die Frage nach dem Sinn des Lebens und der menschlichen Kultur überhaupt bricht also förmlich über Forel herein. Der Jesuit Wasmann, den er als Forscher schätzt und 1918 einige Tage lang zu Gast hat, kann ihn nicht damit überzeugen, daß er solche Sinnfragen, die alle Wissenschaft übersteigen, "offen oder von Rom entscheiden läßt". Umso mehr muß Forel eine religiöse Bewegung faszinieren, die sich so gut wie alle Ziele seines lebenslangen Kampfes um Kultur und Sozialhygiene aufs Panier geschrieben hat, große Opfer dafür gebracht hat und von einer so überragenden Gestalt wie 'Abdu'l-Bahá repräsentiert wird.

Forel spitzt seine Zweifel am Dasein eines persönlichen Gottes, der Bewußtsein, Willen, Macht usw. besitzt, zu der Frage zu, ob er Monist und Agnostiker bleiben und zugleich Bahá'í werden könne. Es ist abwegig und oberflächlich zu behaupten, 'Abdu'l-Bahá sei dieser Frage ausgewichen, nur weil Er nicht direkt darauf geantwortet hat. Ganz im Gegenteil geht 'Abdu'l-Bahá mit Seiner indirekten Antwort viel gründlicher und genauer auf Forels Frage ein, als Er es mit dem von Forel geforderten "ja oder nein" gekonnt hätte, behandelt Er doch im Grunde die Frage, wie Forel überhaupt zu seiner schroffen Fragerei kommt.

Abdu'l-Bahá unterscheidet die Naturphilosophen - im Französischen Forels ist von "naturalistes" die Rede, in der englischen Übersetzung der Antwort von Shoghi Effendi von "materialists" - nach dem Gesichtspunkt, ob sie an Gott glauben oder Gott ausdrücklich ablehnen; auch die "feingebildeten, bescheidenen materialistischen Philosophen, die (der Menschheit) Dienste getan haben", also über ihrem rührigen Einsatz für den Kulturfortschritt die Frage nach Gott offen gelassen haben, werden geschätzt. Nur den militanten Materialismus lehnt Abdu'l-Bahá nachdrücklich ab.

Bei den "Geisteskräften" (mental faculties) unterscheidet Abdu'l-Bahá zwischen dem Verstand (mind, intellect, reasoning power), den Er als etwas Instrumentales faßt, und der Seele (soul) bzw. dem Geist (spirit), wobei Er diese beiden Begriffe fast identisch verwendet. Hier werden künftige Philosophen auf der Grundlage des persisch-arabischen Sprachgebrauchs und der islamischen Geistesgeschichte intensive Studien anzusetzen haben. Uns heutigen Nichtfachleuten sollte genügen, daß wir uns vor allzu weitgehenden Objektivierungen von Begriffen wie Geist, Vernunft und dergleichen fast ebenso in Acht nehmen müssen wie vor materialistischen Fehlschlüssen.

Abdu'l-Bahá sucht glaubhaft zu machen, daß der Mensch über der Natur steht, wobei Er Natur als "die besonderen Eigenheiten und die zwangsläufigen Beziehungen, die aus den Wirklichkeiten der Dinge herrühren", definiert. Gewiß, hier kann ein überzeugter Materialist von Taschenspielereien reden; denn sein Naturbegriff ist im Zweifel ein wenig weiter gefaßt. wesentlich in diesem Zusammenhang ist der Begriff der "alles vereinigenden Wirkkraft" (all-unifying agency), die "die mannigfaltigen Wirklichkeiten der Dinge miteinander verbindet" und die der Materialist als etwas Innernatürliches, Abdu'l-Bahá als etwas Übernatürliches, Transzendentes denkt. Warum? Weil der Mensch Vollkommenheiten besitzt, die der Natur abgehen, und ein Teil unmöglich Vollkommenheiten besitzen kann, die das Ganze nicht hat. Da es nur drei Arten von Gestaltung (formation) gibt und die Welt sich weder zufällig noch zwangsläufig entwickelt hat, muß sie das Ergebnis eines (göttlichen) Willens sein. Die Gottheit, die auf diese Weise als existent erkannt wird, ist über alle Eigenschaften und Vollkommenheiten, die wir Menschen ihr zuschreiben, erhaben; Eigenschaften und Vollkommenheiten sind nur Zeichen, die das Göttliche im Bereich des Diesseitigen widerspiegeln.

Entscheidend ist, wenn wir dieser Argumentationskette gegenübertreten, daß wir es nicht in derselben Weise tun, wie wir einen wissenschaftlichen Beweis in irgendeiner Einzelfrage prüfen. So wenig wir einen Ereignisablauf, in den wir selbst handelnd einbezogen sind, jemals exakt wissenschaftlich beschreiben und Behauptungen darüber "beweisen" können, so wenig können wir das mit einem Weltbild tun, so hochstehend es in logischer und ästhetischer Hinsicht auch sein mag. Letztlich geht es immer um eine Glaubensentscheidung, und die ist eine Willenssache. Nur dürften kam jemals die Argumente dafür so schön zusammengetragen worden sein wie in Abdu'l-Bahás Brief an Forel.

Schön ist vor allem der nahtlose Übergang von der Natur- zur Geistphilosophie bei 'Abdu'l-Bahá. Die Naturgesetze sind ebenso wohltuend wie unerbittlich. Der Mensch ist wie eine Mikrobe in einer Frucht an einem Baum in einem Garten; er kann sich das Wesen Gottes so unmöglich vorstellen wie die Mikrobe sich das Wesen des Gärtners ausdenken kann. Er kann nur das Dasein Gottes erkennen, seine Absicht zu begreifen und zu verwirklichen suchen. Darum geht es. Dieses Anliegen zu verkünden, ist das Amt der Propheten Gottes, die in der gesellschaftlichen Hierarchie Abdu'l-Bahás "die höchste Stufe und den hehrsten Bereich, den vornehmsten und erhabensten Rang" einnehmen¹.

¹ Abdu'l-Bahá "Das Geheimnis göttlicher Kultur", Oberkalbach 1973, S.28

So ist es nur logisch, daß Abdu'l-Bahá zum Schluß behauptet: "Die Lehren Bahá'u'lláhs ... umfassen alle anderen Lehren ... Sie sind wie ein Baum, der unter allen Bäumen die besten Früchte trägt".

Es hätte den Rahmen des Briefes an Forel gesprengt, hätte 'Abdu'l-Bahá hier im einzelne gehend die Drei-Welten-Theorie von Gott, Seiner "Sache" (englisch cause, arabisch 'amr) und der Schöpfung, die von der Sache, dem Befehl, der Absicht Gottes her "globalgesteuert" wird, entwickelt, hätte Er die Idee der fortschreitenden Gottesoffenbarung dargelegt, wonach an Wendepunkten der Weltgeschichte jeweils eine neue "Manifestation Gottes" das Programm für den Lernfortschritt der Menschheit in einem neuen Abschnitt ihrer Kultur festlegt, oder hätte Er alle die geistigen und politischen Ziele, die persönlichen Motivationen und die gesellschaftlichen Imtrumente behandelt, die Bahá'u'lláh für das Programm unserer Zeit, die umfassende Einheit der Menschheit, vorgesehen hat. Begnügen wir uns damit zu erwähnen, daß die Aussage 'Abdu'l-Bahás, diese Lehren umfaßten alle anderen Lehren, von einem der bedeutendsten Vertreter des abendländischen Geisteslebens voll bestätigt wurde: Graf Leo Tolstoi schrieb 1908 an Frid ul Khan Wadelbekow, Bahá'u'lláh habe "den Schlüssel zum Geheimnis des Universums" und beschenke uns "mit der höchsten und reinsten Form religiöser Lehre".

"Aber die Macht des Heiligen Geistes strahlt hell aus der Wirklichkeit der Gottesboten und stählt deren Willen in solcher Weise, daß er ein großes Volk über Jahrtausende hin beeinflußt, die Menschenseele neu erschafft und die ganze Menschheit neu belebt".

#49
IV

Wie reagierte Forel auf Abdu'l-Bahás Brief? Wie richtete er den Rest seines Lebens ein?

In dem 1912 abgefaßten, 1921 erweiterten Testament, das er 1931 an seinem Grab verlesen ließ, schreibt er:

"Erst im Jahre 1920 habe ich in Karlsruhe die überkonfessionale Weltreligion der Bahá'í kennengelernt, die von dem Perser Bahá'u'lláh vor siebzig Jahren im Orient gegründet wurde. Sie ist die wahre Religion des Wohls der menschlichen Gesellschaft, hat weder Dogmen noch Priester und verbindet alle Menschen miteinander, die auf dieser kleinen Erdkugel leben. Ich bin Bahá'í geworden. Möge diese Religion fortleben und von Erfolg gekrönt sein; dies ist mein heißester Wunsch."

Ein klares Bekenntnis, aber zugleich ein Widerspruch zu früheren Teilen dieses Testaments, wo Forel monistische Vorstellungen formuliert, die sich mit den Bahá'í-Lehren nicht vereinbaren lassen. Er spricht von dem "sogenannten persönlichen Schöpfer ... Gott", der "immer stummer wird angesichts der Offenbarungen der Wissenschaft", von "Propheten", die den Menschen "einen oder mehrere Götter mit Menschenantlitz vorgetäuscht haben" und "in ihrer Verzückung die persönlichen Offenbarungen dieser Pseudogottheiten zu hören und zu schauen glaubten". Der hochbetagte Greis konnte sich offenbar nicht mehr von denjenigen Vorstellungen lösen, die seinem kämpferischen Leben Sinn und Ziel gegeben hatten. Er hat die Frage an 'Abdu'l-Bahá, ob er Bahá'í werden und Monist bleiben könne, ja oder nein, wohl ein bißchen zu gewaltsam, "richtige Gedanken rasch realisierend", wie er sich selbst in jungen Jahren charakterisiert, mit Ja beantwortet, nachdem 'Abdu'l-Bahá in Seinem herrlichen Lehrbrief auf dieses schroffe "ja oder nein" wohlweislich nicht eingegangen ist.

Wenn wir nach den Gründen für diesen Widerspruch fragen, bieten sich zwei Erklärungen an: Forel hatte ein so geringes Bedürfnis nach Antworten auf transzendentale, metaphysische Fragen, daß er die in den Bahá'í-Lehren bereitliegenden Erklärungen kaum zur Kenntnis nahm, geschweige denn verinnerlichte; die Aussicht, daß es eine religiöse Gemeinschaft mit viel Zukunft gab, deren sittliche und humanitäre Ziele sich fast völlig mit seinen eigenen lebenslänglichen Kampfzielen deckten, bot Forel genau den Trost, den er nach den Schicksalsschlägen seines Alters brauchte. Zum andern dürften es die Bahá'í-Gesprächspartner Forels trotz aller Aufgeklärtheit schwer gehabt haben, grundlegende Überzeugungen eines Geistes, der "seine Phantasie ausschließlich intellektuell spielen ließ", zu verändern.

Wir besitzen das undatierte, maschinengeschriebene Konzept eines französischen Briefes, mit dem Forel nach dem Tod 'Abdu'l-Bahás dem von Ihm eingesetzten Nachfolger und "Hüter" des Bahá'í-Glaubens, Shoghi Effendi, antwortete, nachdem Shoghi Effendi offenbar die englische Übersetzung von 'Abdu'l-Bahás Brief an Forel übersandt und um Zustimmung zu einer Veröffentlichung gebeten hatte. Hier die Übersetzung des vollen Textes:

Hochverehrter Herr,

ich erhielt soeben Ihren liebenswürdigen Brief und die verschiedenen Übersetzungen der Antwort, welche der hochgeschätzte Abdu'l-Bahá Abba freundlicherweise auf den Brief gab, den ich im Januar 1921 an ihn richtete. Ich hoffe, Sie haben Ihrerseits mein Beileidsschreiben an seine Familie und meine kleinen Aufsätze erhalten. Leider kann ich Ihnen nicht auf Englisch antworten; ich kann es lesen, aber nicht schreiben. Ich darf noch einmal zum Ausdruck bringen, welch unermeßliches Leid auch mir der Tod Abdu'l-Bahás gebracht hat.

Selbstverständlich ermächtige ich Sie, die lange und interessante Antwort zu veröffentlichen, die mir zu geben sich Abdu'l-Bahá die Mühe machte. Aus Liebe zur Wahrheit muß ich Ihnen aber sagen, daß ich in einem Punkt von der Meinung Abdu'l-Bahás abweiche, wiewohl ich von Herzen ein Parteigänger der zwölf Bahai-Prinzipien bin. Nachdem ich das Gehirn bei Mensch und Tier, seine Struktur und seine psychologischen Funktionen von Grund auf studiert habe, hat mich die Wissenschaft zum Monisten gemacht, das heißt, sie hat mir bewiesen, daß die Seele des Menschen, ihre Empfindung ebenso wie ihr Verstand, mit den Funktionen seines Großhirns identisch ist. Folglich stirbt die Seele mit dem Gehirn, und ich kann an ein Weiterleben der Seele nach dem persönlichen Tod nicht glauben.

Dem Wunsch Abdu'l-Bahás entsprechend und Sie selbst als seinen Rechtsnachfolger betrachtend, übersende ich Ihnen zwei meiner wichtigsten Bücher, eine Broschüre (Leben und Tod) und verschiedene Aufsätze. Ich empfehle Ihnen vor allem "L'activité psychique" (Gehirn und Seele, Bonn 1894?). Mein Aufsatz über die "Religion des gesellschaftlichen Wohls" oder die wissenschaftliche Religion wurde im April 1919 geschrieben, also bevor ich im Dezember 1920 in Karlsruhe die Bahá'í kennenlernte.

Die kurze und einfache Frage, auf die ich Sie anstelle Ihres viel zu früh verstorbenen Großvaters bündig zu antworten bitte, lautet wie folgt:

"Kann ich nach dem Glaubensbekenntnis, das ich Ihnen soeben abgelegt habe, mich als Bahá'í betrachten, ohne Heuchler zu sein, ja oder nein?"

Wenn Sie "Leben und Tod", "L'activité psychique" und "Die Religion des gesellschaftlichen Wohls" lesen, sind Sie über meinen wissenschaftlichen Standpunkt völlig im klaren.

Unser gemeinsamer Freund Isfahani hat mir gesagt, ich könne auf ehrliche Weise Bahá'í sein. Die Tatsache, daß Katholiken, Protestanten, Buddhisten, Muhammadaner, Juden und Brahmanen Bahá'í werden können, ohne jeweils ihrem Glaubensbekenntnis abzuschwören, scheint ihm recht zu geben. Auch das sechste Bahai-Prinzip, das keinen Widerspruch zwischen der Religion und der Wissenschaft duldet und das Forschen nach Wahrheit über alles stellt.

Kurz, ich möchte keine metaphysischen Dissertationen über das Absolute machen, das für den Menschen unerkennbar ist, das heißt über das, was Gott sein kann oder das Universelle. Agnosco.

Entschuldigen Sie meinen viel zu langen Brief, aber ich möchte klar und deutlich sein, denn es drängt mich, ohne Mißverständnis, ohne Heuchelei Bahá'í zu sein, ein "Links"-Bahai, wenn Sie so wollen, aber mit denselben Rechten wie diejenigen rechts. Ich wollte Abdu'l-Bahá selbst antworten; aber es ist zu spät. Deshalb bitte ich Sie, mir an seiner Stelle zu schreiben.

Gestatten Sie, mein Herr, den Ausdruck meiner tief ergebenen und brüderlichen Gefühle.

Dr. A. Forel, vormals Professor der Psychiatrie an der Universität Zürich

P.S.: Mit den anderen Aufsätzen der Zeitschrift "La libre pensée" bin ich ganz und gar nicht einverstanden.

Die Antwort kennen wir nicht, noch nicht; weitere Archivstudien sind im Gang. Aber unsere Frage lautete, wie Forel auf 'Abdu'l-Bahás Lehrbrief reagiert hat. Wir müssen sagen: Er wurde Bahá'í, bekannte sich oft und verstandesgemäß überzeugt zu Bahá'u'lláh, aber er blieb ein Sohn der zweiten, der biologischen Aufklärung, fand keinen Zugang zu den Wahrheiten, die das wissenschaftlich Beweisbare übersteigen, oder wenn er diesen Zugang fand, konnte er ihn nicht mehr mitteilen.

#54
V

Hier liegt, über Forel und sein lehrreiches Leben hinaus, die Herausforderung an uns Heutigen und die Kommenden. Es geht nicht nur um die wissenschaftliche Weltanschauung, schon gar nicht um den logischen Gottesbeweis, und wenn es Menschen gibt, die das zu wichtig nehmen, sind sie in neun von zehn Fällen Produkte einer falschen Erziehung. Der Mensch ist mehr als die Funktion seines Großhirns, und die menschliche Kultur ist mehr als die ständige Fortentwicklung ihres Keimplasmas. Es geht auch nicht um unermüdliche Pflichterfüllung, ungeachtet der Tatsache, daß die heutige Menschheit gerade in puncto Pflichterfüllung Vorbilder wie Forel dringender als sonst etwas braucht.

Worum es geht, das ist die Einheit des unteilbaren Menschen, des In-dividuums, die sich völlig parallel mit der geistigen und politischen Einheit der Menschheit entwickeln muß, weil das eine ohne das andere nicht sein kann. Und nicht nur die von Forel verachtete Tiefenpsychologie, sondern die gesamte Erfahrung der kalten und der heißen Kriege, die auf Forels Tod weiter folgten, lehrt uns, daß es Dinge geben muß, von denen unsere Schulweisheit, auch die biologisch-genetische, sich immer noch nicht genügend träumen läßt. Es geht um die Grundfrage, die auch Abdu'l-Bahá Forel entgegenhält (Seite 20), ob "dieses unendliche Weltall mit all seinen Vollkommenheiten zu nichts anderem führt als zu Wahn und Trug" und "völlig sinnlos" ist. Wenn wir nicht wollen, daß dem so ist, müssen wir etwas tun, und zwar über das hinaus, was uns die Wissenschaft bieten kann.

Wir müssen auf diejenigen hören, die es besser, als wir je können, verstanden haben, auf die Stimme des Unendlichen zu lauschen und daraus Sinn abzuleiten. Allen voran sind es die "Manifestationen Gottes", die Begründer der großen Offenbarungsreligionen, die nach einem göttlichen Heilsplan die ganze Welt des Seins befruchten. Wir müssen, weit über die Ehrfurcht vor dem Leben und vor dem Keimplasma hinaus, Ehrfurcht gewinnen vor der Macht, der Weisheit, der Sinnesfülle und der Willensklarheit, die aus diesen Manifestationen Gottes spricht. Wir müssen antworten auf ihren Ruf, uns fügen unter ihren Befehl, uns herausfordern lassen von ihrer Liebe. Bahá'u'lláh, der den höchsten Anspruch erhebt, der je auf unserem Planeten erhoben worden ist, drückt diesen Anruf des Göttlichen, diese Herausforderung zur Gestaltung der Welt, so aus:

"O Sohn des Menschen! Verhüllt in Meinem unausdenkbaren Wesen und in der Ewigkeit Meines Seins erkannte Ich Meine Liebe zu dir; darum erschuf Ich dich, prägte dir Mein Ebenbild ein und offenbarte dir Meine Schönheit." (VW ar.3)

"O Sohn des Seins! Liebe Mich, damit Ich dich liebe. Wenn du Mich nicht liebst, kann Meine Liebe dich niemals erreichen. Erkenne dies, o Diener!" (VW ar.5)

In diesem ewig neuen Geist sollten wir Forels Frage und Abdu'l-Bahás Antwort überdenken und unsere ganz persönliche Entscheidung treffen.

Peter Mühlschlegel
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Abdu'l-Bahá BRIEF AN FOREL

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